Schlangestehen

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Viele Briten behaupten schon seit Jahren, London habe sich einseitig vom Rest des Landes unabhängig erklärt, sei also keinesfalls repräsentativ für ganz Grossbritannien. Das liegt natürlich unter anderem daran, dass in der Hauptstadt sehr viel mehr Ausländer leben als anderswo und diese Fremden offenbar einfach nicht zu begreifen scheinen, welche englischen Regeln im Alltagsleben unbedingt einzuhalten sind.

Ziemlich einleuchtend erscheint einem diese Einschätzung, wenn man sich das berühmte Schlangestehen (auf Englisch „queuing“ genannt) mal in London näher anschaut. Hier nämlich verkommt diese Tradition immer mehr. Warum? Niemand kann es genau sagen. Vielleicht sind Hektik und Stress des modernen Lebens daran schuld. Vielleicht aber eben auch die Tatsache, dass in London so viele Nicht-Briten leben und diese das Prinzip vom Schlangestehen einfach nicht mit der Muttermilch aufgesogen haben. Schließlich sind ja vor allem Ausländer immer wieder verwundert über die Geduld, mit der wohlerzogene Briten stundenlang Schlange stehen können. Für die wiederum aber hat das „queuing“ natürlich viel mit zivilisiertem Lebensstil zu tun.

Die Statistiker haben es errechnet: Jeder Brite verbringt gut zwei Jahre seines Lebens mit Schlangestehen, das sind 4 Stunden und 26 Minuten jede Woche (Tendenz in London, wie gesagt, abnehmend).

Nach einer aktuellen Umfrage gibt es aber frappierende regionale Unterschiede beim Schlangestehen: Im Norden der Insel nutzen zwei Drittel der Menschen den erzwungenen Stillstand, um neue Bekanntschaften zu machen, während 58 Prozent der südlichen Bewohner in aller Stille vor sich hinleiden. Aber nicht nur das: 7 Prozent aller Briten aus dem Süden geben zu, dass sie gesprächige Mitschlangesteher einfach ignorieren.

Doch damit nicht genug: laut Statistik haben die Bewohner der südwestlich von London gelegenen Grafschaft Surrey die besten Schlangen-Manieren, während die Nordlichter in Lancashire die schlechtesten vorweisen. 23 Prozent von ihnen haben bei einer Umfrage zugegeben, dass sie schroff und unhöflich reagieren, wenn sie in der Schlange angesprochen werden. Aber die allerschlimmsten sind, wie gesagt, die Londoner: 82 Prozent von ihnen haben zugegeben, dass sie schon mal einen Anfall von “queue rage” hatten – dass heißt: beim Schlangestehen ausgerastet sind. Die meisten aber wohl nur innerlich, denn nur 11 Prozent gaben zu, dass sie ihrem Ärger auch öffentlich Luft gemacht hatten. Also wieder ein Beweis, dass die berühmte „stiff upper lip“ immer noch hoch im Kurs steht. Der Beweis scheint erbracht: selbst wenn der Londoner in seiner Schlange Höllenqualen leidet, traut er sich nur im seltensten Fall, deshalb einen richtig schönen Wutanfall zu bekommen.